Wilde Kreuzung der Zeit
Ich habe eine außerordentliche Entdeckung gemacht. Es ist mir schon vor einiger Zeit aufgefallen. Zuerst war ich so perplex, dass ich nicht genau wusste, wie ich mit dieser neuen Entdeckung überhaupt umgehen soll. Handelt es sich um ein lokales Phänomen? Oder ist es eine globale Erscheinung? Als außenstehende Beobachterin kann ich nur vermuten und nach passenden Worten suchen, die das Ereignis sinnvoll beschreiben. Ich fang mal so an:
Es gibt viele berühmte Straßen auf der Welt. Abbey Road, Champs Élysées, Route 66. Klar – jeder hat seine eigenen Bilder dazu im Kopf. Auch die Hamburger Reeperbahn ist weltweit bekannt. (Sting zum Beispiel hat 1978 seinen Police-Song „Roxanne“ nach einer langen Kieznacht geschrieben. Vielleicht.) Nun soll es hier aber nicht um die Highlights der Reiseführer-Tipps gehen, sondern um einen flüchtigen Nebenschauplatz hinter den Kulissen.
Vor ein paar Wochen bin ich sonntags um sechs Uhr morgens mit Fernglas und Klemmbrett über die Reeperbahn geschlendert und eher zufällig in den Pepermölenbek eingebogen. Ich schätze kaum jemand kennt die kurze Straße „Pepermölenbek“ (Pfeffermühlenbach). Sie klingt sehr märchenhaft, sieht aber nicht so aus. Die Straße ist eine alte, funktionale Verbindung zwischen der Reeperbahn und dem Hamburger Fischmarkt. Auf halber Höhe führt eine kleine Fußgängerbrücke über die abschüssige Strecke. Genau da lässt sich morgens ab sechs Uhr ein interessantes Schauspiel beobachten. Jeden Sonntag findet hier für ein bis zwei Stunden auf knapp 100 Metern eine Gestern-Heute-Überlagerung statt. Massen von partygetränkten Nachtmenschen vermischen sich mit Massen von frischgeduschten Touristen auf dem Weg zum Fischmarkt. Für die einen ist (noch) gestern, für die anderen (schon) heute. Das Ganze verdichtet sich auf wenigen Metern zu einer wilden, kompakten Kreuzung. Ein unscharfer Flashmob aus Gestern- und Heutemenschen verschmilzt ineinander. Oben von der Brücke aus sehe ich ein Meer von zeitlichen Zuständen. (Gibt es nicht Astrophysiker die behaupten, dass sich Raum und Zeit umkehren lassen? In Schwarzen Löchern oder Neutronensternen oder so ähnlich? Ich glaub, die sollten sich das hier mal ansehen!)
Nun mag sich der eine oder andere vielleicht fragen, was Frau Depenbusch da in aller Herrgottsfrühe eigentlich mit Fernglas und Klemmbrett auf der Reeperbahn wollte? Berechtigte Frage. Ich habe Vögel beobachtet! Der NABU hatte zur Vogelzählung im eigenen Wohnbezirk aufgerufen. Ich habe mitgezählt. Buchfinken, Zaunkönige, Rotkehlchen. Dass man dabei auf eine Verschiebung der Raumzeit stößt, ahnt ja keiner. Wie so oft bei den großen Entdeckungen der Menschheitsgeschichte. Sie begegnen einem zufällig, ohne Absicht. Und sie verändern den eigenen Blick auf die Welt.
Nächsten Sonntag halte ich hier mal Ausschau nach Zukunftsmenschen. Jemand, der mir vielleicht berichten kann, wie wir das alles so gewuppt kriegen in den nächsten Jahrzehnten. Zum Beispiel die globale Erdüberhitzung. Oder die soziale Menschunterkühlung. Bis jetzt habe ich hier noch niemanden aus der Zukunft an der wilden Gestern-Heute-Kreuzung gesichtet. Aber ich spähe weiter und krümme mich mit der reeperbahnschen Raumzeit. Und wer zufällig Sonntag um 6:00 Uhr an der Ecke ist, kann mir gern ein Franzbrötchen oben auf der Brücke vorbeibringen.
Nächste Folge: 5. Juli
"Die Welt der Anna Depenbusch" Kolumne erscheint immer am 1. Freitag des Monats.
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