Wie tief ist der Tiefpunkt?
Ich schreibe oft Lieder für ganz konkrete Leute. „Alles auf Null“ zum Beispiel ist für eine Freundin als Neustart-Motivation entstanden. „Hey Cowboy“ ist für einen lethargischen Bekannten, der einfach nicht in die Hufe kommt. „Kommando Untergang“ ist für einen geheimen Schwarm, der niemals erfahren wird, dass es „sein“ Lied ist. „Eisvogelfrau“ ist für die beeindruckende Emmy Noether, deren Geschichte mich sehr fasziniert. Fast alle Lieder haben sozusagen einen bestimmten Paten, zu dem sie gehören. Mit der Zeit lösen sich die Songs aber auch von ihren Musen-Menschen und verselbstständigen sich – gehen eigene Wege. Das ist immer ein schöner Moment, da ab und zu ganz unerwartete Dinge passieren. Manchmal sehe ich meine eigenen Lieder nämlich in einem neuen Licht. Sie haben plötzlich mehr mit mir selbst zu tun, als ich gedacht hatte. So ging es mir vor ein paar Tagen mit „Irgendwo ist oben“.
Ich habe ein Radiointerview mit der Apnoetaucherin Anna von Boetticher gehört. Apnoe heißt soviel wie Atemstillstand und bedeutet in diesem Zusammenhang Freitauchen – ohne Sauerstoffgerät. Eine Lunge voll Luft und gucken, wie lang und wie tief man damit kommt. Anna von Boetticher ist vielfache Rekordhalterin auf ihrem Gebiet und kann mit einem Atemzug sehr lange und sehr tief tauchen. 3 Minuten, 125 Meter tief. Puh... Mir sind solche Extremsportler(innen) ja irgendwie immer ein bisschen unheimlich. Was treibt jemanden an, sich freiwillig in diese lebensfeindlichen Grenzbereiche vorzuwagen? Warum setzt man sich dieser Gefahr und diesem Stress aus? – Im Radiointerview bekomme ich eine Antwort. Anna von Boetticher erzählt so zauberhaft und poetisch vom Glitzern im Dunkeln. Von der schwebenden Stille zwischen zwei Herzschlägen, wenn sich ihr Puls auf knapp über 30 Schläge pro Minute verlangsamt. Von den Blauschattierungen der Eisberge über ihr unter Wasser in einer Polarnacht. Sie schwärmt von Begegnungen mit riesigen Meeressäugern, die neugierig an ihrer Seite bleiben auf dem Weg in die Tiefe. Sie beschreibt das meditative Innehalten und den Sog der irgendwann an ihr zieht, wenn der ganze Körper durch den Wasserdruck so stark komprimiert wird, dass der Auftrieb verschwindet. Wie ein Stein sinkt die Freitaucherin zum Meeresboden hinab – in stockfinsterner Dunkelheit bei zwei Grad Wassertemperatur. Und da ist sie wieder, die Frage: Warum tut das jemand? Freiwillig!? Macht die bequeme Oberfläche etwa erst so richtig Sinn, wenn man am dunkelsten Tiefpunkt war? Wie tief ist der Tiefpunkt eigentlich?
Mir schoss mein Lied „Irgendwo ist oben“ durch den Kopf. Vor vielen Jahren habe ich es für eine gute Freundin geschrieben, die immer wieder dunkle, depressive Phasen durchlitten hat. Das Lied handelt vom Weiterschwimmen, Zug um Zug, auch wenn noch kein Funke Licht in Sicht ist. Das Durchwandern einer großen, tiefschwarzen Ungewissheit ohne Zielpunkt am Horizont und ohne Luft zu kriegen. Weitermachen, auch wenn man gerade nicht mehr weiter weiß... Das Licht wird kommen – ganz sicher.
In diesen Tagen denke ich oft an das Lied. Es beschäftigt mich. Momentan stecken wir alle zusammen in einer ungewissen Zeit. Woche für Woche – Monat für Monat. Es gibt Augenblicke, da mache ich mir große Sorgen um die Zukunft und wie es weitergeht. Aber dann denke ich: einfach weiterschwimmen. Zug um Zug durch die unklaren, trüben Gewässer und irgendwann schimmert es durch: Das helle Türkis der Oberfläche. Wir haben wieder Oberwasser und nehmen einen ruhigen, satten Atemzug. Im Innern die Gewissheit einer unerschöpflichen Kraft und Stärke, die wir aus der Tiefe mitbringen, wie einen Schatz. So wird es sein – ich bin mir ganz sicher, denn irgendwo ist oben. Aber jetzt erstmal durchhalten. Weiterschwimmen.
Falls du Lust hast dir das Interview mit der Apnoetaucherin Anna von Boetticher selbst mal anzuhören: Hier ist es. Und wenn du mir deine Gedanken dazu mitteilen willst, schreib mir an: briefe@annadepenbusch.de