Morgens halb zehn in Depenbusch
Immer wieder werde ich gefragt, woher ich eigentlich die Inspiration für meine Lieder nehme. Ob das meine eigenen Geschichten wären oder ob alles bloß frei erfunden sei. Ich druckse dann ein bisschen um den heißen Brei herum, denn so ganz genau kann ich diese Frage nicht beantworten. Die Lieder kommen nämlich nicht wirklich aus mir heraus. Sie kommen zu mir herein. Und das passiert so:
Jeden Tag morgens um 9:00 Uhr betrete ich mein Musikzimmer, setze mich ans Klavier und warte. Ich warte darauf, dass mir irgendetwas einfällt. Ich warte darauf, dass sich Worte und Melodien in meiner Vorstellung zusammenfügen. Ich halte inne und horche auf ein Signal. Es ist so eine Art „kreativer Bereitschaftsdienst“, den ich da in stoischer Stille am Klavier absitze. Stunde um Stunde, tagein, tagaus. Das ist mühsam, frustrierend und oft sehr langweilig. Doch ich muss es tun. Ich bin nämlich fest davon überzeugt, dass alle Lieder dieser Welt im Grunde schon komplett fertig sind und einfach nur für sich alleine als fertiger Song schwerelos durch den luftleeren Kosmos trudeln. Sie tun das solange bis sie wissen, zu wem sie wollen. Ja, die Lieder entscheiden ganz eigenwillig alleine zu welchem Liedermacher sie gehören. Und genau das birgt in sich natürlich eine große Gefahr. Denn wenn ich in diesem Augenblick, wo mich ein Lied ausgesucht hat, nicht auf meinem Klavierhocker sitze und Bereitschaft zeige, tja – dann hab ich das Lied verpasst. Schwups, weg ist es! Und niemand kann vorhersagen, ob wir beide uns jemals wiederbegegnen werden. Eine tragische Angelegenheit. Doch das tägliche Warten auf ein musikalisches Tête-à-tête lohnt sich! Der Moment, wenn wir zwei uns das erste Mal begegnen, das Lied und ich, ist unbeschreiblich schön und jedes Warten wert. (Ich werde davon ein anderes Mal ausführlicher berichten.)
Irgendwie erinnert mich diese Situation, wie ich so dasitze und warte, an eine Blind-Date-Verabredung. 9:01 Uhr. Ich bin pünktlich. Nett und adrett mit etwas weichen Knien, voller Hoffnung auf die ganz große Lied-Liebe. Wird das Lied kommen? Wird es mich sofort erkennen und mir hier am Klavier vertraut in die Finger fallen? Wie ein Seelenverwandter in verschmelzender Harmonie? Dann steht uns beiden eine glückliche, gemeinsame Zukunft bevor. Mein Leben lang. Ja, ich will. Ich bin bereit und erwarte Dich schon sehnsüchtig. Wo bist Du? Gegen 9:15 Uhr kommen dann die ersten Zweifel in mir hoch. Wo bleibt mein Lied? Hat es sich auf dem Weg verlaufen? Findet es keinen Parkplatz? Oder steht es womöglich schon seit einigen Minuten heimlich vor meinem Fenster und beobachtet mich? Denkt es sich vielleicht: „Och nöö, nicht zu der. Wie sie da so needy sitzt und auf mich wartet... Ich suche lieber weiter nach einem anderen, der Lieder macht.“ Autsch! Blind-Dates können schmerzhaft sein. Egal – ich gebe nicht auf. Wahrscheinlich hätten wir beide sowieso nicht so gut zueinander gepasst. Das richtige Lied wird schon noch kommen. Ich bleibe im Bereitschaftsmodus. Irgendwann um 9:30 Uhr lass ich los und meinen Gedanken freien Lauf.
Diese monatliche Kolumne ist die bunte Spielwiese, um meine Gedankendrachen steigen zu lassen. Ohne Musik. Ich rolle hier dem inneren Kopfkino eine eigene Leinwand aus. Welche Filme laufen ab, morgens um halb zehn in Frau Depenbusch?
Die nächste Folge erscheint am 11. Januar 2019.
Dann immer am 1. Freitag im Monat.