Kleine Ode an den Alltag
Sommerferienzeit. Alle fahren weg. Ich bleib hier und mache – Staycation. Dieses merkwürdige Wort, zusammengesetzt aus Stay (Bleiben) und Vacation (Urlaub), habe ich irgendwo aufgeschnappt. Es bedeutet wohl so viel wie: das Gute liegt so nah. Auch zu Hause, wenn alle anderen auf Zypern, La Palma oder den Kapverden dösen, ist es schön hier. Das stimmt. Die Beweggründe für Staycation können vielfältig sein. Für die einen ist es eine quälende „Flugscham“, die sie zuhause bleiben lässt. Ja, auch dieses seltsame Wort habe ich neu aufgeschnappt, ganz nebenbei im Fahrstuhl. (Angeblich hatte eine fünfköpfige Familie, die zum Tauchen auf Hawaii war behauptet, sie wäre zwei Wochen auf Amrum Wattwürmer suchen gegangen. Eine Notlüge vor lauter CO2-produzierender Scham!)
Wieso will man eigentlich in den Urlaub? Klar: Erholung, Regeneration, Abenteuer, Abwechslung. Mal andere Tapeten oder Wattwürmer sehen. Neue Leute kennenlernen, fremde Orte entdecken. Vielleicht auch ein bisschen Abstand zu sich selbst gewinnen, um alte Rollen abzulegen. Im Urlaub kann man jemand anderes sein. Lockerer, lustiger, impulsiver. Viele Emotionen gibt es auch nur in der Ferne, abseits der gewohnten Pfade. Den Urlaubsmut, zum Beispiel. Den Urlaubsleichtsinn oder – selbstverständlich – die Urlaubsliebe! Besonders die, wird daheim bei Neonlicht statt Sonnenuntergang besonders hart auf die Probe gestellt. Oft verfliegt sie genauso schnell, wie sie entflammte. Eigentlich sind das doch genau die Geschichten, aus denen neue Lieder entstehen, oder?
Für mich hat meine Staycation weder global-emphatischen Hintergrund, noch brauche ich die Ferne als Inspiration für neue Lieder. Ich produziere gerade (mit viel Luft, Liebe und wahrscheinlich auch ein bisschen CO2) mein neues Album. Das kann ich nur da, wo ich mich auskenne. Zu Hause an meinem Klavier. Für kreative Gedanken brauche ich nämlich Routine. Je bunter die Bilder im Kopf werden sollen, desto eintöniger muss mein Alltag drumherum aussehen. Ist so. Jeden Tag immer der gleiche Tagesablauf, die gleichen Wegstrecken, die gleiche Kleidung und die gleichen Essenspausen. Manch einer mag das zwanghaft nennen, ich nenne es Freiheit. Denn erst im Trott erkenne ich das Neue – das Unerwartete. Dann weiten sich meine Horizontpupillen, und das verborgene Neuland tut sich vor mir auf. Ich bekomme den offenen Urlaubsblick. Meine Augen fokussieren dann Dinge, die ich bislang übersehen habe.
Zum Beispiel einen „Unverpackt“-Laden, an dem ich sonst immer vorbei gelaufen bin. Er ist mir einfach noch nie aufgefallen. Hier kauft man seine Lebensmittel und alltäglichen Notwendigkeiten ohne Plastik und überflüssige Verpackungen. Man bringt eigene Behälter mit, oder leiht sich Pfandgläser aus. Dann zapft man seine Haferflocken und Schokolinsen aus „Gravitationsspendern“ (ja, auch dieses Wort habe ich jüngst aufgeschnappt. Hat wohl etwas mit Hygiene zu tun.) Ich dachte, unverpackt einkaufen ist nur was für Leute mit sehr viel Zeit, die ihren Einkauf als Highlight des Tages vorausplanen. Bei mir passiert Einkaufen nebenbei auf dem Weg. Aber jetzt gerade mit einem offenen, entschleunigten Blick, nehme ich meinen Urlaubsmut zusammen und probiere das einfach mal aus: Palim-palim, wie funktioniert das hier bei euch?
Fazit: Unverpackt einkaufen geht völlig unkompliziert und ohne Zeitverlust. Ich bin begeistert! Und interessante Leute lernt man da zwischen den Gravitationsspendern kennen. Ich glaube, ich habe mir einen neuen Ort vertraut gemacht und fühle mich um ein kleines Abenteuer bereichert. Das alles klingt vielleicht banal, ist es aber nicht. Der eigene Blick macht aus dem Gewöhnlichen etwas Ungewöhnliches – aus der Alltagsroutine, ein poetisches Album. Ach, und Phantasiereisen haben noch keinem Baum geschadet. Aloha!
Nächste Folge: 6. September 2019
"Die Welt der Anna Depenbusch" Kolumne erscheint immer am ersten Freitag des Monats.
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