№10
Die Welt der Anna Depenbusch September 2019

Ich sehe was, was Du nicht siehst

Über den Sinn von Social-Media-Likes

Gibt es den Mond, wenn niemand hinsieht? – Entschuldigung, wie bitte? Ja genau. Ob der Mond überhaupt existiert, wenn keiner zu ihm hochguckt? Die Frage klingt absurd. Und genau darüber zerbrechen sich Physiker schon seit hundert Jahren den Kopf. Ehrlich gesagt hätte ich den Physikern so ein hohes Poesiepotenzial gar nicht zugetraut. Da spazieren Astronauten auf unserem Erdtrabanten herum, hissen ihre Flaggen, und gleichzeitig fragen sich Teilchenphysiker, ob es den Mond gibt, wenn keiner hinsieht. Ein interessantes Spannungsfeld. Für mich wäre so eine vieldeutige Frage eher in den Bereich der Kunst oder Philosophie einzuordnen – unter Umständen vielleicht noch in die Psycho- oder Pathologie. Bei dieser seltsamen Mondfrage handelt es sich um ein berühmtes Gedankenspiel unter zwei Physikern. Aufgeschnappt habe ich sie in einer TV-Dokumentation über Quantenphysik.

Scheinbar verhält es sich mit Quantenteilchen (z.B. Elektronen) so ganz anders, als es der gesunde Menschenverstand annehmen würde. Erst der Beobachter definiert die Wirklichkeit der Dinge. Und genau da liegt das Problem. Wie. Soll. Das. Gehen? Der Mond wird zum Mond wenn jemand hinsieht und dadurch aus dem Mond den Mond macht, weil er mit ihm wechselwirkt? Aha. Das Wort „Wechselwirkung“ wird in der Doku übrigens sehr oft gesagt. Alles wechselwirkt so miteinander vor sich hin. Albert Einstein hatte seinem jüngeren Konkurrenten Niels Bohr damals in den 1920er Jahren vorgeworfen, die Bedeutung der Quantentheorie falsch zu interpretieren. Wirklichkeit existiere auch völlig unabhängig von einem Beobachter. In einer Diskussion mit Bohr hatte Einstein provokant behauptet, es gibt den Mond doch auch, wenn keiner hinsieht! Bohr wollte dafür dann einen Beweis. Dieser Beweis ist bis heute nicht erbracht. Denn irgendwer guckt immer und schwups ist der Mond da. Irre! Tja, und wenn absolut niemand guckt, lässt sich auch nichts beweisen. So ähnlich fasste es die Doku zusammen. Großartig, oder? Ich habe gerade das Gefühl die Physiker sind gar nicht das, wofür ich sie bislang immer gehalten habe: Wirklichkeitskonforme Realisten, die mit großen Mikroskopaugen und feinen Maßbandfingern die Welt kleinlich vermessen, während sie unverständliche Formeln murmeln. Physikforschende sind Künstler – unverstandene Poeten auf der Suche nach dem wahrhaften Wesen der Dinge. Ich gebe zu, ich habe mich von einem Vorurteil gegenüber dieser Berufsgruppe in die Irre führen lassen und bitte hiermit um Pardon! Fremde Welten prallen einfach schnell aufeinander.

Neulich habe ich in einer Zeitung gelesen, dass Instagram die Anzahl der Likes unter Posts nicht mehr öffentlich anzeigen will. In dem Artikel ging es dann genau darum: Um aufeinander prallende Welten, um Vorurteile und zu schnelle Fehlschlüsse – im kleinen Umfeld wie im großen Gesellschaftsgefüge. Instagram wolle sich mit einem Zeichen starkmachen für mehr soziales Miteinander. Junge Menschen würden sich zu sehr über die Anzahl ihrer Likes auf Social-Media-Plattformen definieren. Das macht depressiv und nagt am gesunden Selbstwertgefühl. Eine Abwärtsspirale. Instagram will nun vorbildlich vorangehen gegen das Konkurrenzdenken unter Jugendlichen. Die Likes sollen weg – für mehr Toleranz. Wow. Ich war baff und fand die Idee mutig. Umgesetzt wurde sie leider nicht. Alles blieb beim Alten. Schade. Das hätte ein spannendes Experiment werden können. Eine Inspiration zum Nachdenken, Neuinterpretieren und miteinander Wechselwirken – und sei es nur als Testballon für eine begrenzte Zeit.

Mich hat der Artikel über den Druck, den Likes auf Kinder und Jugendliche in sozialen Netzwerken ausüben, sehr nachdenklich gestimmt... Gibt es die Likes denn überhaupt, wenn niemand hinsieht? Erst der Beobachter definiert die Wirklichkeit der Likes, dann würde ein Nichthinsehen eine andere Wirklichkeit definieren. Wenn man zum Beispiel zusammen mit seinem/seiner Liebsten Hand in Hand durch eine laue Herbstnacht spaziert und gemeinsam den Vollmond bewundert, dann gibt es den Mond! Zumindest für zwei Menschen. Alles andere ist dann ziemlich egal. Virtuelle Likes erst recht.

Nächste Folge: 4. Oktober 2019
"Die Welt der Anna Depenbusch" Kolumne erscheint immer am ersten Freitag des Monats.

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