Ich hab Fußballerfinger!
Die Spiel-Saison ist zu Ende. Vorgestern habe ich mein erstes und zugleich letztes Konzert für 2019 gespielt. (Danke Zürich für den herzlichen Empfang und die textsicheren Fans bei diesem Auswärtsspiel.) Heute beginnt offiziell die konzertfreie Kreativzeit für das neue Album. Na dann mal los – ab ins Trainingslager, Anna. Sei kreativ. Neue Lieder. Jetzt!
Ich sitze am Klavier und starre auf meine Hände. Mir fällt nix ein. Wovon will ich singen? Was sind die Themen, die mich beschäftigen? Welche Begegnungen haben mich bewegt, berührt, beeindruckt? Und wie klingt das dann genau? Dur, moll, 3/4-Takt? Ich weiß es noch nicht und starre auf meine Hände. 10 Finger. Schon mal gut. 11 wären besser, aber wir sind nicht beim Fußball. Auf den Torwart muss ich hier am Klavier verzichten. Gibt kein Tor auf der Tastatur. Meine 10 Spieler liegen planlos und verspannt auf dem schwarz-weißen Spielfeld. Sie warten auf Anweisungen vom Trainer. Nach der Tour ist vor dem Album. Das wissen alle hier auf dem Platz, trotzdem fehlt die Inspiration. Das Team ist müde. Die Luft ist raus. Ich als Trainer sehe das sofort. Wie motiviere ich denn jetzt meine Melodien-Mannschaft?
Erstmal Analyse: Als langjähriger Trainer kenne ich das schwächste Glied in der Gruppe: Rechtsaußen, also kleiner Finger, rechte Hand. Die wichtigste Flügelposition am Flügelinstrument! Die Top-Note im Gesamtarrangement! Der melodiöse Silberstreif am harmonischen Horizont! Es ist ein Wunder, dass wir es überhaupt bis in diese Liga geschafft haben. Mittelfeldfinger und Ringverteidigerfinger decken die Positionslücke mit ab. Das sind zwei kräftige Spieler, die können das Defizit ihres Teamkollegen ausgleichen. Zum Glück. Daumen linke Hand ist Kapitän. Etwas träge, aber verlässlich. Er hält die Truppe zusammen und sichert mit Linksaußen als Oktavdoppelung solide den Bassbereich. Pardon! Ich verliere mich in Fachsimpelei — also: Der kleine Finger rechts ist das große Problem. Was tun? Die Lösung ist mir letzte Nacht in einem Züricher Hotelbett im Traum erschienen:
Ich sitze am Kamin einer eingeschneiten Berghütte und esse Käsefondue zusammen mit Vincent van Gogh. Ja wirklich! Ich klage ihm mein Leid mit der Mannschaft. Hm, er hätte da eine tolle Idee: Das Elend muss weg! Den dünnen Schwächling rechts außen schafft locker jedes Brotmesser. (Er hat sich selbst das Ohr abgeschnitten, er wird sich auskennen.) Für die Symmetrie der Hand sollte man allerdings Linksaußen gleich mit amputieren. Van Goghs Augen verengen sich. Zurück bleiben dann acht gleich starke Spieler. Acht männerbein-haarige Spinnenbeine-Finger, zischelt mein Kumpel Vince mit einem Netz aus Käsefonduefäden vor dem Mund. Er packt blitzartig meinen rechten Arm in den Schwitzkasten und legt los. Ich spüre gar nichts, versuche zu schreien. Einen tonlosen, eingefrorenen Schrei. Aus dem Fondue-Topf springt Edvard Munch: „Grüezi mitenand!“ Dunkelheit. Der Wecker klingelt.
Ich liege im Hotelbett, mein rechter Arm ist eingeschlafen. Er fühlt sich wie ein fremder, angenähter Arm an mir an. Doch dann übernimmt als erster der Kleine rechts außen die Spielführung und beginnt virtuos zu dribbeln... äh kribbeln. Alle anderen richten sich nach ihm aus und entwickeln seine Ideen dynamisch weiter. Ich starre auf meine Hände. Was passiert hier? Mein ganzer Körper kribbelt vor Lebendigkeit. Heute beginnt die Kreativzeit. Ja, ich werde die Aufstellung ändern und die Aufgaben neu verteilen! Doch denk immer daran, mein kleiner Kapitän rechts außen: „With great power comes great responsibility.“ („Spider-Man“)
Nächste Folge: 01. März 2019
"Die Welt der Anna Depenbusch" Kolumne erscheint immer am 1. Freitag des Monats.
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