Das Spinat-Zahn-Experiment
Bei mir beginnt jetzt ab Dezember die Promotion für mein neues Album. Das heißt drei Monate vor Veröffentlichung der CD läuft die Werbetrommel langsam heiß. (Ich hoffe, ihr habt es selbst auch schon irgendwo mitbekommen ;-) Für mich ist diese Phase immer eine merkwürdige Zeit, denn aus der introvertierten, privaten Innenwelt, aus der ich meine Lieder schreibe und ganz für mich bin, wird plötzlich eine extrovertierte, öffentliche Außenwelt, die sich auf einem rummeligen Marktplatz behaupten muss. Ich merke den Übergang in diese neue Phase immer daran, dass ich plötzlich viel häufiger in den Spiegel schaue. Wie sehe ich aus? Sitzt alles, stimmt alles? Kann ich so zu meinem nächsten Termin gehen? Ich glaube jeder von uns hat seine eigene Spiegelblick-Routine bevor er aus dem Haus geht. Oder? Ich frag mich oft, nach welchem Maß ich mein Spiegelbild dann eigentlich messe? Nach Innenwelt- oder Außenwelt-Maßstab? Oder ist es das Gleiche? Einen Moment... Ich schau grad mal in den Spiegel... Hm, also ich sehe zwei Maßstäbe. Wie geht das zusammen?
Als ich neulich mit einer Freundin beim Mittagstisch saß und wir über dies und das quatschten, fletschte sie plötzlich ihre Zähne und fragte: „Salat oder so?“ Ich war ziemlich überrumpelt und verstand erst gar nicht, was sie meinte. Sie fletschte weiter und wollte wissen, ob etwas vom Salat zwischen ihren Zähnen hängen geblieben wäre. Es sei doch der absolute Albtraum, etwas zwischen den Zähnen zu haben und nichts davon zu wissen. Man spaziert nichtsahnend den ganzen Tag mit einem grünen Zahn herum. Womöglich noch zu einem Bewerbungsgespräch oder Interview. Wie höllenpeinlich! Ich kenne die Sorge. Irgendwie ist so eine Situation doch immer unangenehm für alle Beteiligte. Dabei eignet sich der Moment doch ganz wunderbar, um sein Gegenüber etwas besser kennenzulernen. Denn wie der andere mit einem Makel umgeht, sagt doch einiges über seine Persönlichkeit aus. So eine Gelegenheit sollte man nicht ungenutzt verstreichen lassen und das brachte mich auf eine Idee für einen kleinen Selbstversuch: Das Spinat-Zahn-Experiment.
Ich habe es schon einige Male probiert. Bei beruflichen und privaten Verabredungen drapiere ich mir absichtlich etwas am Schneidezahn, um zu sehen, wie mein Gegenüber damit umgeht. Das ist vielleicht ein bisschen gemein, aber so einfach und genial. Denn in kürzester Zeit erfährt man so viel vom Anderen. Über Ehrlichkeit, Mut, Taktgefühl, Empathiefähigkeit und Verantwortungsbewusstsein. Jawohl! – all das hängt zusammen mit einem grünen Spinatblättchen am Zahn. Erstaunlich, oder? Und der sensible und souveräne Umgang mit so einer brisanten Situation öffnet sofort mein Herz. Wenn ein dezentes „Zahn!“ geflüstert wird, dass nur ich hören kann und niemand sonst. Das schafft Nähe. Ich liebe diese feine Augenblicksempathie. Ohne Tam-Tam und Drama. Das Spinat-Zahn-Experiment ist eine kleine Hilfestellung in zwischenmenschlichen Entscheidungsfragen. Ich kann nur jedem raten es mal auszuprobieren. Vielleicht bei einer Weihnachtsfeier mit den Arbeitskollegen oder bei einem romantischen Date? Als Inspiration empfehle ich Loriot zusammen mit Evelyn Hamann in dem grandiosen Sketch mit der Nudel. Ein ganz wunderbares Makel-Spektakel. Für mich und meine Promo-Phase lasse ich es aber doch lieber langsam angehen.
Nächste Folge: 3. Januar 2020
"Die Welt der Anna Depenbusch" Kolumne erscheint immer am ersten Freitag des Monats.
Was denkst du? Schreib mir an briefe@annadepenbusch.de